FREDI BREUNIG

Fredis Glosse

rit. = Ritardando (Hochdeutsch)

29.09.2020
Ich mache eine Wette: wenn jemand den folgenden Text gelesen hat, denkt er sich garantiert: „Eustach, das machst du mir nicht weis! Das ist garantiert einer deiner Witze!“ Wetten, nicht? Es geht um Kultur und Kunst und über die lässt sich bekanntlich nicht streiten. Oder doch? Neulich ein Leserbrief in der Main-Post. Es ging um einen Artikel, in dem geschrieben war, dass 480.000 € dafür ausgegeben werden, 300.000 Jahre alte Speere zu untersuchen. Der Leserbriefschreiber (aus Unterelsbach!): 480.000 €? Um herauszufinden, wie die Speere hergestellt worden sind und für was sie verwendet worden sind? Ich weiß es: hergestellt mit dem Faustkeil, verwendet für Angriff, Jagd oder Verteidigung. Für was denn sonst???“ Recht hat er, der gute Mann. Aber es ist halt Kultur ……. Und jetzt mein unglaublicher Fall - aus der Kunst. Als alter Musikant weiß ich noch, dass die Abkürzung „rit.“ auf einem Notenblatt „Ritardando“ und damit übersetzt „langsamer werdend“ heißt. Aber was mit dem Orgelstück „Organ2/ASLSP“ von John Cage passiert ist, das schlägt dem berühmten Fass den Boden aus! „ASLSP“ steht für „As slow as possible“ und wer Englisch kann, weiß, dass das „so langsam wie möglich“ heißt. Also hat man sich 2001 in Halberstadt (Sachsen-Anhalt) ganz wörtlich an dieser Übersetzung orientiert und beschlossen, das Orgelstück so langsam zu spielen, dass es sage und schreibe - haltet euch fest insgesamt 639 - in Worten: sechshundertneununddreißig - Jahre dauert. 639 Jahre für ein Stück, dass der Organist Gerd Zacher 1989 bei der Uraufführung in 29 Minuten runtergerissen hat. So ein (musikalischer) Hetzer! Nein, im Ernst: das ist die neue Langsamkeit! 1997 ist die Idee entstanden, die Angabe „so langsam wie möglich“ so wörtlich wie möglich zu nehmen. Und so ist beschlossen worden, dass auf der Orgel in Halberstadt nur alle paar Jahre ein neuer Ton gespielt wird. Begonnen worden ist das Stück am 5. September 2001 - mit einer eineinhalb Jahre langen Pause! Am 5. Februar 2003 war dann der erste Orgelton zu hören. Dann gab es am 5. Oktober 2013 wieder einen Tonwechsel und jetzt zuletzt am 5. September 2020, also vor gut drei Wochen. Der nächste Tonwechsel ist für 5. Februar 2022 geplant, fertig sein soll das Stück dann im Jahr 2640. Wird knapp für uns alle …… Ihr glaubt das jetzt nicht, oder? Geht ins Internet, gebt ein „Langsamstes Musikstück der Welt“ und lest selbst. Servus, der Eustach.

<< zurück